Herr Breyer, Sie sind Geschäftsführer des Reiner Lemoine Instituts in Berlin. Wie wird nach Ihrer Einschätzung die Energieversorgung im Jahr 2020 aussehen?
Breyer: Also, im Jahr 2040 werden die ersten Länder wahrscheinlich zehn Jahre nach ihrer abgeschlossenen Energiewende sein. Das würde mich nicht überraschen. Das werden wahrscheinlich Inseln sein, weil sie die teuerste Energieversorgung haben. Und die Länder, in denen weniger Lobby-Druck herrscht, könnten es auch früher schaffen. Deutschland könnte 2040 gerade so mit der Energiewende fertig geworden sein. Photovoltaik wird dann einen signifikanten Anteil haben. 200 Gigawatt Photovoltaikleistung halte ich für sehr wahrscheinlich.
Herr Quaschning, Sie sind Professor für Regenerative Energiesysteme an der HTW Berlin. Warum 200 Gigawatt?
Quaschning: Ich habe mich mit dem Thema schon in den 1990er Jahren sehr intensiv auseinandergesetzt. In meiner Habilitationsschrift habe ich die Bedingungen für eine klimaverträgliche Stromversorgung in den kommenden 50 Jahren beleuchtet. In Potenzialstudien ging es darum, was sich in Deutschland an Photovoltaik installieren lässt, ohne dabei in großem Umfang auf Freiflächen zurückgreifen zu müssen. Es hat sich gezeigt, dass 200 Gigawatt Photovoltaikleistung realistisch sind. Auch gerade mit Blick auf eine Vollversorgung aus Erneuerbaren in Deutschland ist es wichtig, dass das Potenzial der Photovoltaik ausgeschöpft wird – zumal es sich in dieser Größenordnung auch sehr gut mit der Windenergie ergänzt.
Herr Burger, Sie kommen aus der Leistungselektronik. Trotzdem treten auch Sie für den starken Zubau ein.
Burger: Die Energieszenarien sind eigentlich nicht mein richtiges Arbeitsgebiet. Ich mache sie eher aus der Not heraus. Ich sehe eine große Zukunft für die Photovoltaik, da sie eine Halbleitertechnologie ist und dadurch ein großes Kostensenkungspotenzial hat. Das bilden die gängigen Studien nicht ab. Man sieht sehr schnell, dass die Szenarien, die heute diskutiert werden und die von viel zu kleinen Installationsmengen ausgehen, sehr viele offensichtliche Fehler haben. Deshalb habe ich ein eigenes Szenario entwickelt. Wenn man sich die Stromerzeugungskosten für das Jahr 2020 berechnet, zeigt sich, dass Photovoltaik und Onshore-Windenergie etwa gleich teuer sein werden, während Offshore-Windkraft noch etwas teurer sein wird. Es kommt dann nicht mehr darauf an, welches die günstigste Energiequelle ist, sondern mit welchem Erzeugungsmix wir die geringsten Kosten für den Netzausbau und die Speicherung haben werden. Unter diesen Randbedingungen kommt man auf ungefähr ein Drittel Photovoltaik und auf grob 200 Gigawatt installierte Leistung.
Sie haben die anderen Szenarien angesprochen, die deutlich weniger Photovoltaik sehen, etwa die Leitstudie für das Umweltministerium. Was ist deren Fehler?
Burger: Bei der Photovoltaik sind die angenommenen Kosten viel zu hoch und bei Wind Onshore und Offshore eher zu niedrig. In den letzten fünf Jahren wurden die Kosten der Photovoltaik in den Leitstudien kaum angepasst, aber die Kostensenkungen waren dramatisch. Das hat keinen Niederschlag in den Studien gefunden.
Breyer: Biomasse kommt auch relativ günstig weg. Man muss den Autoren eines zugute halten: Ihre eigentlichen Kerntechnologien Wind, solarthermische Kraftwerke und Biomasse verstehen sie sehr gut. Photovoltaik entnehmen sie aus anderen Quellen. Da sehe ich deshalb Defizite.
Quaschning: Das hat übrigens große Auswirkungen auf den Netzausbauplan. Es werden die falschen Netze und Leitungen in Deutschland auf Basis dieser Leitstudie kommen. Wenn ich an der Hochschule etwas über die Photovoltaik veröffentliche, hat das nicht direkt Eingang in die Politik. Diese Leitstudie dient aber als Grundlage dafür, wie in Deutschland die Netze gebaut und über 30 Milliarden Euro investiert werden. Da muss man doch zweimal hinschauen und vielleicht auch eine zweite oder dritte Studie von Wissenschaftlern anfordern, die eine etwas andere Position haben. Aber eine andere Position wollte die Politik vermutlich gar nicht hören.
Kann das Netz 200 Gigawatt denn überhaupt aushalten?
Quaschning: Vor zehn Jahren hat man schon gesagt, wir schaffen nicht mal drei Gigawatt, weil dann die Netze zusammenbrechen. Das ist bislang nicht passiert. Die Herausforderung wird immer größer, das ist vollkommen klar. Ich gehe davon aus, dass von gewissen Stellen bewusst auch nicht die richtigen Maßnahmen ergriffen werden, um das Netz stabil zu halten. Die großen Energieversorger haben gar kein Interesse, dass wir acht Gigawatt jährlich neu installieren. Warum sollen die die Investitionen tätigen, damit das Ganze entsprechend funktioniert? Also laufen wir schon auf einen kleinen Crash zu.
Wie teuer wird der Strom, wenn wir ein 200-Gigawatt-Szenario umsetzen?
Breyer: Es zeichnet sich ab, dass wir auf jeden Fall unter zwölf Eurocent pro Kilowattstunde Stromgestehungskosten bleiben. Das ist für ein Worst-Case-Szenario für das Jahr 2020 gerechnet, das aber für jede Stunde des Jahres funktioniert. Dann wird es keinen Netzzusammenbruch geben, und es ist ein sehr dezentrales Szenario. In der Realität könnten wir sicherlich zehn Eurocent oder weniger an Stromgestehungskosten für ein 100-Prozent-Erneuerbare-Szenario schaffen, allein schon weil die nötigen Speicher günstiger werden. Zum Vergleich: An der Strombörse kostet die Kilowattstunde heute sechs bis sieben Eurocent an Vollkosten, also inklusive der Anlageninvestition, die an der Strombörse keine Rolle spielt. Das sind die Kostenannahmen für heute, diese werden aber steigen, da auch die Stromgestehungskosten der fossilen Kraftwerke steigen.
Wieso?
Breyer: Weil man sie neu bauen und tendenziell steigende fossile Brennstoffpreise bezahlen muss. Die Kosten werden zusätzlich steigen, weil die heutigen Energiesysteme stark subventioniert sind. Insbesondere weil man jährlich anfallende externe Kosten nicht dort zuschreibt, wo sie anfallen. Dazu zählen außenwirtschaftliche Abhängigkeiten, Schwermetallemissionen oder Schäden durch den Klimawandel, die tatsächlich bezahlt werden, aber nicht im Energiebereich. CO.-Zertifikate werden verschenkt. Der faire Preis für CO2-Emissionen sind 70 Euro pro Tonne. Zum Vergleich: Mit Photovoltaik kommen wir heute schon auf etwa 50 Euro pro Tonne.
Herr Quaschning, um die 200 Gigawatt zu erreichen, setzen Sie stark auf den Eigenverbrauch, durch den unabhängig von der Vergütung viel Photovoltaik zugebaut wird.
Quaschning: Wie will man dann verhindern, dass nicht alle Endkunden ihren Strom zu weniger als einem Drittel des Preises selber machen, statt ihn teuer einzukaufen? Man müsste schon die Photovoltaik mit einer Strafsteuer belegen, um zu verhindern, dass nicht mindestens 150 Gigawatt installiert würden, denn die Flächen dazu auf den Dächern sind da.
Die Leute brauchen im Winter dann immer noch den Netzstrom. Es wird diskutiert, dass der Preis dafür steigen müsste.
Breyer: Ich möchte aus der Diskussion etwas Dampf herausnehmen. Vom Energieverbrauch entfällt in Deutschland ein Drittel auf die privaten Haushalte. Mich würde es sehr überraschen, wenn mehr als ein Drittel dieses Drittels überhaupt die Chance hat, ihr eigenes Dach anzuzapfen. Wir reden also über etwa zehn Prozent des deutschen Stromverbrauchs, also etwa eine Größenordnung von 50 bis 60 Terawattstunden, was 50 bis 60 Gigawatt Photovoltaik ergibt.
Burger: Ich denke, wir bräuchten einen neuen Stromtarif. Der Grundpreis ist heute für den Netzanschluss viel zu niedrig und deckt nicht die Kosten, die dahinterstehen. Der Kilowattstunden-Preis ist eigentlich zu hoch, weil viele Bereitstellungskosten in den Verbrauch hineingerechnet werden.
Quaschning: Da widerspreche ich ganz klar. Das Modell, bei dem die Kilowattstunde weniger kostet und der Grundpreis höher wird, würde bedeuten, die Leute gehen wieder sorgloser mit Energie um. Damit würde der Strombedarf explodieren. Mich wundert es, dass man diese Diskussionen so vehement im Energiebereich führt, nicht aber für andere Bereiche, wo man die gleiche Situation hat, wie im Nahrungsmittelanbau oder dem öffentlichen Transport. Noch ein Aspekt, warum ich denke, dass die Endkunden so wichtig sind: Wir benötigen hohe Investitionen für die Energiewende, egal in welche Energieform. Wer finanziert den ganzen Spaß? Wenn wir 200 Gigawatt mit Investitionskosten von 1000 Euro pro Kilowatt rechnen, dann wären das etwa 200 Milliarden Euro. Die großen Energieversorger sind gar nicht willens und vermutlich auch gar nicht in der Lage, diese Investitionen in vergleichsweise kurzer Zeit zu tätigen, der Einfamilienhausbesitzer schon.
Was ist sonst noch nötig, damit wir 200 Gigawatt erreichen?
Burger: In Deutschland müssten wir den Wärmebereich noch mehr berücksichtigen, da dort auch sehr viel Energie hineinfließt und Wärmespeicher erheblich günstiger als Stromspeicher sind. Die Konversion von zeitweise überschüssigem Strom in Wärme ist sehr einfach und schnell zu realisieren. Wir müssen außerdem den europäischen Energieaustausch verstärken. Man braucht dafür auch keine neuen Stromautobahnen, sondern muss hauptsächlich die Kuppelstellen an den Grenzen verstärken.
Und was das EEG angeht?
Breyer: Ganz wichtig ist der Einspeisevorgang, denn ansonsten sind die Erneuerbaren sofort am Ende und würden aus dem Markt herausgedrängt.
Quaschning: Ein anderer wichtiger Punkt: Der Übergang ist gar nicht so einfach, weil die Kernkraftwerke noch bis 2022 laufen sollen. Und die brandenburgische Landesregierung bekennt sich gerade zu einem Weiterbetrieb der Braunkohlekraftwerke bis 2040. Sowohl Braunkohle als auch Kernenergie sind aber de facto kaum regelbar. Das heißt, wenn wir jetzt acht Gigawatt Photovoltaikzubau pro Jahr sehen, dann kommen wir in sechs, sieben Jahren zu einem Punkt, an dem die Photovoltaik zumindest zeitweise mittags 100 Prozent der Stromversorgung decken wird. Die Grundlastkraftwerke wären dann überflüssig.
Das führt doch direkt zum Argument, dass wir gar nicht so viel Photovoltaik brauchen.
Quaschning: Wenn wir die nächsten 100 Jahre noch Braunkohle und Kernenergie haben wollen, ja.
Breyer: Wir brauchen die Kraftwerke einfach nicht mehr so lange. Das ist die eigentliche Konsequenz. Nicht wir müssen länger mit dem Ausbau der Photovoltaik warten, sondern die anderen Kraftwerke, die langfristig Netzinstabilitäten hervorrufen, die müssen abgeschaltet werden.
Quaschning: Warum soll für das Braunkohlekraftwerk wie Jänschwalde in Brandenburg von 1976, das drei Prozent der deutschen CO2-Emissionen verursacht, noch ein Geschäftsmodell geschaffen werden? Nur um zu sagen, das müssen wir noch länger betreiben, weil es den Strom billig macht. Wenn es viel Solarstrom gibt, müssen wir entweder die Photovoltaikanlagen abschalten oder eben dieses Braunkohlekraftwerk, und beides ist unwirtschaftlich. Auch der Kernenergieausstieg muss noch mal überdacht werden. 2022 ist eigentlich bei so einem schnellen Ausbau der regenerativen Energien zu spät. Nur deshalb sehen wir auch in vielen Studien, dass der Markt ab 52 Gigawatt Photovoltaikleistung gesättigt scheint.
Was hat denn der Installateur von den 200 Gigawatt?
Breyer: Er kann mehr verkaufen, etwa eine Wärmepumpe oder einen Speicher zur Photovoltaikanlage. Das sind alles mehr Komponenten, die aber gesamtsystemisch in Kombination mit der Photovoltaikanlage viel Sinn machen können.
Warum gibt es so wenige, die bislang das Ziel 200 Gigawatt Photovoltaik in Deutschland öffentlich vertreten?
Quaschning: 200 Gigawatt sind einfach logisch. Wir sind weitgehend unabhängig auf diese Zahl gekommen. Man benötigt für die Umsetzung aber eine komplett andere Energieversorgung, die schon in diesem Jahrzehnt ohne Kernenergie und Braunkohle auskommt. Dazu muss man sich bekennen.
Das Gespräch führten Michael Fuhs und Sandra Enkhardt.